Auch zweieinhalb Jahre nach Einführung des AMNOG ist die Nutzenbewertung des G-BA mit der Analyse des IQWiG noch heiß diskutiert – im Zentrum der Diskussion steht die Methodik zur Bestimmung der zweckmäßigen Vergleichstherapie.Zweckmäßige Vergleichstherapie meint die Therapieform, die in der deutschen Versorgung in einer definierten Indikation am häufigsten verwendet wird. Dies beinhaltet in manchen Indikationen auch nicht-medikamentöse Formen der Therapie (beispielsweise wählte das IQWiG für Fampyra® bei Multipler Sklerose als Vergleichstherapie die Krankengymnastik).In der Diskussion zur Nutzenbewertung mit dem IQWiG/G-BA (mittels Dossiers und Anhörungen) werden also deutsche Versorgungsdaten –soweit vorhanden- zugrunde gelegt, um daraus quantitativ die zweckmäßige Vergleichstherapie zu ermitteln. Datenquellen, die dazu in Deutschland herangezogen werden können, sind: GKV-Daten, Register-Daten oder entsprechende Versorgungsstudien.Dünne DatenlageAlle drei möglichen Quellen zur Bestimmung der zweckmäßigen Vergleichstherapie haben methodische Grenzen und eine begrenzte Verfügbarkeit:
- GKV-Daten und Register sind in den meisten Fällen nicht genau indikationsspezifisch erhältlich oder höchstens regional begrenzt und damit nicht repräsentativ verfügbar
- Versorgungsstudien sind ebenfalls sehr selten indikationsspezifisch vorhanden und für eine komplette Neuerstellung einer Studie von der Konzeption bis zum Ergebnis wird viel Zeit und Geld benötigt.
Versorgungsforschung 2.0Eine völlig neue, bisher noch nicht verwendete Lösung des Problems bieten heute interaktive Plattformen im Web 2.0. In Portalen für Erkrankte oder Ärzte könnten schnell, preisgünstig und nahezu in Echtzeit Therapien aus der Versorgung erfasst werden.In sozialen Medien teilen die Teilnehmer viele persönliche Informationen mit der Allgemeinheit. Die erkrankten Teilnehmer könnten durch diese Informationen sogar im Falle von Versorgungsstudien die Verbesserung der Therapie durch neue nutzenbringende Medikamente unterstützen.Die wichtigsten Erfolgsfaktoren für Studien in Patienten-Netzwerken wären:- Indikationsspezifische Teilnehmergruppe- Einbindung von Selbsthilfe-Organisationen, um gezielt Teilnehmer zu gewinnen- Sicherung des Datenschutzes- Erfassung und Aggregation (mit Anonymisierung) der Daten durch unabhängige DritteEin Beispiel für ein (indikationsunabhängiges) Patientennetzwerk ist www.patientslikeme.com.
Auf der stark US-amerikanisch geprägten Plattform sind 32 der 591 Erkrankten mit der Indikation Brustkrebs bereit, ihre Therapien (Bestrahlung, Anastrozol, Chemo, brusterhaltende OP) offenzulegen, obwohl dies nicht explizit von patientslikeme.com gefordert wird.Versorgungs-Studien in sozialen NetzwerkenDiese Daten könnten in repräsentativer Menge und als nationale Stichprobe als Versorgungsdaten zur Feststellung der zweckmäßigen Vergleichstherapie im Nutzenbewertungsprozess eingesetzt werden. Darüber hinaus können auch für die Evidenz- /Leitlinienbasierte Qualitätssicherung solche Ansätze hilfreich sein.Arzt-Communities als DatenquelleNeben Patienten-Netzwerken sind auch Arzt-Communities als Plattform für Versorgungsforschung denkbar. Deutsche Communities für Ärzte sind bereits etabliert und ein fachspezifischer Austausch findet dort zum Teil auch über einzelne Patientenfälle und Therapien statt. Die Angebote von z.B. Coliquio, Hippokranet oder Esanum haben etwas unterschiedliche thematische und indikationsbezogene Schwerpunkte, könnten jedoch alle geeignet sein, um Versorgungsdaten zu erfassen. In Form von Umfragen wäre die Standard-Therapie in einer definierten Indikation abfragbar.Zum Teil werden die Antworten der Teilnehmer sicher auf „gefühlten“ Häufigkeiten der Verordnungen basieren. Um jedoch valide Informationen geben zu können, ist von den beteiligten Ärzten wahrscheinlich eine zeitintensivere Recherche in Patientenakten notwendig, der in der Regel in Studien aufwandsgerecht vergütet wird. Ob eine entsprechende Erwartung an eine Aufwandsentschädigung der sachgerechten Beantwortung einer Versorgungs-Umfrage im Wege steht, muss sich in einem Pilot-Projekt zeigen.Das Komparator-ProblemSteht die zweckmäßige Vergleichstherapie fest, bleibt für die Feststellung des Zusatznutzens das Komparator-Problem: im besten Falle ist in der Zulassungsstudie für das neue, zu bewertende Medikament der Komparator identisch mit der zweckmäßigen Vergleichstherapie. Viele Phase-III-Studien (als Zulassungsstudien) untersuchen jedoch nicht die in Deutschland führende Vergleichstherapie, sondern orientieren sich an internationalen Standards (häufig USA), da die Zulassung mit diesen Studien international angestrebt wird. Zudem ist eine Studie mit einer nicht-medikamentösen Vergleichstherapie - wie beispielsweise in der Nutzbewertung von Fampyra® gefordert – mit der Anforderung an Verblindung und Placebo-Methodik kaum durchführbar.Daher entsprechen viele Phase-III-Studien als Datenbasis nicht den Anforderungen der frühen Nutzenbewertung in Deutschland. Eine frühe Versorgungsstudie zum Zeitpunkt der Konzeption der Phase-II-Studie könnte hier ebenfalls helfen, die deutschen Anforderungen der Nutzenbewertung rechtzeitig zu antizipieren. Die Daten können dann bereits vor Studienbeginn in den frühen Guidance-Prozess mit den Behörden einfließen und von Anfang an eine evidenzbasierte Diskussion ermöglichen.FazitIm Sinne der Patienten bleibt zu hoffen, dass jedes Medikament mit einem Zusatznutzen gegenüber derzeit durchgeführten Therapien verfügbar wird. Eine schnelle und effiziente Identifikation der zweckmäßigen Vergleichstherapie aus der Versorgung kann dazu beitragen. Der Bedarf der pharmazeutischen Unternehmen für neue Ansätze mit einem Aufwand-Nutzen-Verhältnis, das klassischen Versorgungsstudien oder Registern in Zeitbedarf und Kosten überlegen ist, ist offensichtlich. An dem Willen der Patienten, sich für therapeutische Verbesserungen (insbesondere für lebensbedrohliche Erkrankungen) zu engagieren, werden solche Ansätze jedenfalls am wenigsten scheitern…